Liebe auf der Flucht, lol

Von Philipp Stadelmaier

Philipp Stadelmaier ist Filmwissenschaftler (Frankfurt a.M. / Paris) und als Filmkritiker vor allem für die „Süddeutsche Zeitung“ tätig.


Amour von Michael Haneke ist alles andere als eine Komödie. Eine Haneke-Parodie auf Twitter zeigt nun, dass er vielleicht gerade eine sein muss, um überhaupt gesehen werden zu können. So wird der Kommentar, der sagt, was ein Film nicht ist, selbst zur Komödie, und eröffnet damit nicht nur Amour, sondern vielleicht dem Genre der Komödie selbst neue Perspektiven.


In der genialen Twitter-Parodie von Benjamin Lee kann sich Michael Haneke vor Lachen kaum halten: Laughing Out Loud, anders kann er sich den Triumph von Amour nicht erklären, diesem film about strokes, der alles andere als ein funny game ist. Zwei Achtzigjährige beim Sterben filmen, zwei Stunden lang, in einem Pariser Appartment, das der Film nie verlässt und selbst zum Sarg wird, so dass der Zuschauer nur die Rolle des Todes oder eines Toten einnehmen kann – und schon hat man einen Publikumserfolg, die zweite Goldene Palme und Oscar-Nominierungen en masse.
Streng genommen besteht Amour aus drei Bildern, die allen anderen zu Grunde liegen. Einmal ist das Anne (Emmanuelle Riva), ehemals Pianistin, sie hat anfangs einen Schlaganfall. Dann ihr Mann, George (Jean-Louis Trintignant), der sie pflegen und am Ende ersticken wird, um sie aus ihrem Elend zu befreien; danach stirbt auch er. Diese beiden Bilder – ein Schuss und ein Gegenschuss des Paares am Küchentisch – kennen alle, es sind die einzigen des Films, die Haneke zu Werbezwecken freigegeben hat. Für das dritte Bild muss man zahlen. Es zeigt dann, was sonst, beide zusammen. Aber zeigt es wirklich mehr als die beiden anderen – bleibt zwischen Schuss und Gegenschuss überhaupt noch ein bisschen Platz?
Da sitzt George einmal im leeren Wohnzimmer und stellt sich Anne vor, wie sie früher, gesund, am Klavier saß. Damals war er der Zuschauer der Klaviervirtuosin – so wie sie jetzt, komplett paralysiert, sein Zuschauer wird. Die Frage, wie man Zuschauer dieser oder jener Szene sein kann, ist in Hanekes Werk zentral, denn Zuschauen heißt, wie in „Amour“, Gewalt – Verletzen und Verletztwerden. Hanekes letzter Film, „Das weiße Band“, endete mit dem Bild eines Publikums, das hier gleich zu Anfang zu sehen ist, in einem Konzerthaus, um festzuhalten, dass die Öffentlichkeit aus der Wohnung, in der sich der Film dann verbarrikadiert, ausgeschlossen bleibt und das Publikum also ausschließlich im Film zu finden sein wird. In „Amour“ bleiben Zuschauer und Spektakel unter sich: Er und sie, George und Anne. Schwer, sich dazwischen zu klemmen. Außer für den Tod. Und für diese Taube, die ab und an mal reinfliegt – sofern das nicht der Tod selbst ist.
Darüber, was Hanekes Amour ist, lässt sich sicher viel sagen, und vieles ist gesagt worden – viel Gutes, wenig Schlechtes. Darüber, was Amour nicht ist, wurde hartnäckig geschwiegen. Vielleicht, weil nicht viel über ihn zu sagen blieb. Jaja, so ist es, das Sterben, das Alter, die Liebe; Er und Sie, Zuschauer und Spektakel, dazwischen spielte sich alles ab. Wo also – ja, ja – der Film in dem, was er in seiner geschlossenen Gesellschaft selbst schon affirmierte, weiter affirmiert wurde (sinnlos genug: wo alles längst klar ist, wartet niemand mehr auf erneuten Segen) musste irgendwann ein „ja“ das andere erst mal bestätigen, bejahen – also herausfordern, in Frage und Abrede stellen. So, dass aus einem ja, ja ein vielleicht oder ein vielleicht auch nicht oder Nein entstehen konnte. Um dem Film die zweite (oder einzige? erste oder letzte?) Chance zu geben, außerhalb seines Sarkophags etwas anderes zu sein als das, was er war, also etwas, was er nicht oder noch nicht war. So, dass etwas über ihn zu sagen übrig blieb. Und dazu musste ein Haneke kommen, der kein Haneke war, aber – jaja – bestimmt Haneke war, und der über sein Meisterwerk immer und immer wieder nur sagte, dass es eins sei und nichts über es zu sagen bliebe – es sei denn im Scherz, lol.


Uups, I forgot: Wer ein Meisterwerk gemacht hat, vergisst das schon mal. Weniger aus Bescheidenheit, sondern weil dem nichts hinzuzufügen ist. Meisterwerk ist Meisterwerk, und Socke ist Socke. Punkt. Selbst die goldene Palme kann das weniger honorieren (das wäre demütigend), als zumindest daran erinnern. Denn kein Preis der Welt kann eigentlich von sich behaupten, ein unschätzbares Meisterwerk wirklich „ausgezeichnet“ zu haben: jeder award ist stets einer zu viel und einer zu wenig. Trotz oder gerade wegen all der Preise: Bisher sind wir Amour nicht annähernd gerecht geworden.


Vielleicht ja deswegen, weil es in Amour, wie Eugenio Renzi in seiner Kritik auf independencia.fr geschrieben hat, keine Liebe gibt. Der Film könnte ebenso gut „Tod“ heißen, „Taube“, „Paris“, „Piano“, oder „Stroke“. Es könnte sich auch um eine Fortsetzung der „Die Hard“-Filme handeln: Stirb langsam, jetzt erst recht. Oder ist Amour, dieser Film über zwei „Untote“, Fast-Tote und Bald-Tote, ein Casting-Video zu World War Z? Ein Essay über das Werk von George A. Romero? Eine Folge von The Walking Dead?


Erst der Kommentar eines Haneke, der einen Haneke kommentiert, der er nicht ist, erhellt, was Amour, dem jede Spur von Ironie abgeht, nicht ist – wobei es sich um keine banale Parodie handelt, als dass auf diese Weise der Film überhaupt erst für jemanden zu existieren beginnen kann, der nicht schon, wie Anne und George, Zuschauer im Film ist. Und zwar – lol – durchs Lachen. Das Lachen macht den Film erst kommentarfähig; ja, das Lachen ist dieser Kommentar. Denn es lacht gerade darüber, dass nicht klar ist, ob überhaupt die Zeit bleibt, lachend zu kommentieren, ob es nämlich nicht eher erstickt wie Anne unter dem Kopfkissen, das George ihr am Ende aufs Gesicht presst. Denn wenn Amour ein „Meisterwerk“ ist, zu dem nichts weiter zu sagen bleibt, dann deswegen, weil diejenigen, an die er sich adressiert – ebenso wie die beiden Zuschauer im Film – walking dead sind, die in dem Moment, in dem sie den Film sehen, schon tot sind, da sie gewiss tot sein werden. Als gäbe es einen Witz, in dem jeder Kommentar dieser toten Untoten oder untoten Toten zu Amour plötzlich einen Halt auf freier Strecke einlegt: „Hat einer ‚Amour’ gesehen und gemeint…“ – und mitten im Witz trifft einen dann, wie den Witz, der Schlag.


Wenn im Kino auf der Leinwand Untote ihren Tod auf sich zukommen sehen, dann sehen die, die ihnen dabei zuschauen, von der Leinwand ihren eigenen Tod auf sich zu kommen. Wer Amour sieht, der sieht in die Zukunft, weil er sieht, wie sie auf einen zukommt – this film will be based on a true story.
Amour lässt also keinen Ausweg. Aus diesem Grund ist der Film – anders als Die Klavierspielerin, Caché oder Das weiße Band (und eher wie Funny Gammes, lol) – eskapistischer als jeder Hollywood-Film: Er verlässt nie die Wohnung und flieht damit vor jeder anderen Bewegung als vor der, die straight auf den Tod zuläuft. Es sei denn, Amour ist in Wahrheit der Traum, eine Verfilmung einer Erzählung von Jorge Luis Borges zu sein, in der wiederum eine Taube träumt, Amour zu sehen, während sie die ganze Zeit über – I can see dead people – tatsächlich in einem Film von M. Night Shyamalan war: