Grenzen, Film, Theorie

Im Rahmen der jährlich wechselnden LICHTER-Schwerpunkte veröffentlichen wir hier verschiedene Beiträge von FilmemacherInnen, KritikerInnen sowie TheoretikerInnen, die unsere jeweiligen Themen aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchten.

2016 // LICHTER Thema Grenzen

“Grenze ist (…) ein Begriff,
ohne den die Welt denkerisch
nicht erschlossen werden könnte.

“
(Norbert Wokart, Würzburg 1995)

2016 steht mit „Grenzen“ ein viel diskutierter und grundlegender Mechanismus im Fokus des LICHTER Filmfests. Im internationalen Filmprogramm und in einer Reihe von Begleitveranstaltungen machen wir aktuelle Fragen zu Grenzziehungen und Abgrenzungen im Wechselspiel zwischen Film und Gesellschaft erfahrbar und laden zur Diskussion ein. Dabei interessieren uns Grenzen als räumliche, psychologische oder identitätsbildende Trennlinien zwischen Ökonomien, Kulturen, Religionen, Gesellschaften oder sozialen Milieus: Welche Grenzen gibt es? Was bedeuten und bewirken sie? Leben wir eher in einer Zeit der Auflösung bestehender oder der Ziehung neuer Grenzen? Die Suche nach Antworten führt das Festival notwendig auch zur Frage nach individueller und gesellschaftlicher Freiheit. 

What Do we Know When We Know Where Something Is? World Cinema and the Question of Spatial Ordering

von Vinzenz Hediger

Professor für Filmwissenschaft an der Goethe-Universität Frankfurt am Main und Mitbegründer des NECS – European Network for Cinema and Media Studies

Dieser Beitrag wurde publiziert auf: screeningthepast.com

When the moon hits the eye
Like a big pizza pie –
That’s amore.
– Dean Martin

Everything is somewhere. Even Corsica is somewhere.
– Nurit (age six)

The concept of World Cinema emerges in a moment when cinema, as defined by film theory and as understood in film culture, appears to be in crisis. This crisis may be described as a problem of spatial ordering. The place of cinema, understood as a medium, a cultural institution and a canon of films, is in doubt – a problem which the concept of World Cinema appears to solve by proposing new modes of spatial ordering.

I Cinema as Index and Dispositif, List and Map
In the age of digital portable devices, global communication networks and intensified global trade, the moving image is on the move. Film has left the cinema and appears to be everywhere, creating new experiential spaces and new modes of experiencing film along the way – or rather, along its manifold new routes of circulation. For many film theorists, in today’s media culture with its intensified circulation of moving images, the very essence of cinema is at stake. While Francesco Casetti observes a shift from a culture of film “attendance” (a collective ritual of pubic moviegoing) to a culture of film “performance” (a more individualised practice of customised program choices), [1] for other theorists like Raymond Bellour, the moving image on the move calls the very essence of cinema into question: “Cinema is a body of memory”. [2] The experience of that body of memory, Bellour claims, is inextricably bound to the setting of film screening in a cinema. Once the moving image leaves the cinema, the body of memory is lost – certainly not to be retrieved in viewings of films on digital portable and other devices. For Bellour, a Kenji Mizoguchi film viewed in the movie theatre is cinema; the same film watched on a television or a mobile phone may be a film, but it is not cinema. [3] What is at stake, then, when the moving is on the move, is cinema itself.

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Vorübergegangen, Hängengeblieben: Filmobjekte als popkulturelle Medienrelikte

von Stefanie Plappert

© Fleming Feß / Deutsches Filminstitut DIF e.V.

Erstmals publiziert auf: pop-zeitschrift.de

Film ist eine Zeitkunst, seine Bilder und Narrationen entfalten sich erst im zeitlichen Verlauf, und das unabhängig von seinem jeweiligen Träger, egal ob es sich um analoges Filmmaterial oder digitale Datenträger mit angeschlossenem Beamer handelt. Film zeigt sich erst durch Licht im Raum. Filmwahrnehmung ist ephemer, in diesem Sinne vielleicht am ehesten der Musik vergleichbar.

Was nach dem Film bleibt, sind nachwirkende Bilder, die Erinnerungen an eine visuell-akustische Erfahrung, an das Gefühl des sozialen Raums Kino – und Objekte, die seiner Produktion entstammen: Zeichnungen, Pläne und Skizzen, technische Geräte; Kostüme und Masken, Dokumentationsfotografien und Plakate. An ihnen lassen sich Drehabläufe, Lichteinrichtung und Entwicklungsstufen ablesen, sie illustrieren Schnittfolgen und Werbestrategien. Aber um selbst popkulturellen Wert zu entwickeln (bzw. zugeschrieben zu erhalten), benötigen sie ein „Eigenleben“. Dieses entsteht nicht mehr nur allein über das Wissen der Betrachtenden um die Funktion der Requisite im Film (also anders etwa als die Aura), sondern benötigt für seine popkulturelle Aufladung die Kapazität, auch herausgelöst aus dem filmischen Kontext und transferiert in verschiedensten Bedeutungszusammenhängen zu funktionieren.

Objekte mit Film- und Popbezug zusammenzustellen ist darum eine spannende Aufgabe: Aus den Archiven des Deutschen Filminstituts DIF e.V. in Frankfurt am Main habe ich eine Reihe interessanter und unterschiedlicher Objekte ausgesucht, die ich nach und nach vorstelle.

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Unendliche Weiten …? // Umkämpfte Grenzen im Internet

von Thorsten Thiel

Ursprünglich Erschienen bei: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft

»Governments of the Industrial World, you weary giants of fl esh and steel, I come from Cyberspace, the new home of Mind. On behalf of the future,I ask you of the past to leave us alone. You are not welcome among us.You have no sovereignty where we gather.« [1]

Diese Auftaktzeilen der 1996 verfassten »Declaration of the Independenceof Cyberspace« stehen sinnbildlich für ein Verständnis, das noch heute die Erzählungen vom Internet dominiert: Die Ubiquität, Globalität und Aktualität des Netzes und die unendliche Leichtigkeit der Vernetzung im Web 2.0 werden so gedeutet, dass Staaten und ihre Grenzen im Internetvöllig bedeutungslos geworden sind. Das je nach Standpunkt daraus folgende utopische oder dystopische Raunen, dass niemand das Internet kontrollieren könne, ist ein Topos von großer Kraft.

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Völkerwanderung

von Ralph Bollmann

[aus: Sonntagszeitung, 25.10.2015, WIRTSCHAFT (Wirtschaft), Seite 28 – Ausgabe D1, D1N, D1S, D2, R – 2925 Wörter ]

Im Römischen Weltreich herrschten Wohlstand und Offenheit. Das Imperium zerfiel erst, als die Einheimischen die Nerven verloren und dem Hass auf die Flüchtlinge nachgaben.

Ein Wort macht Karriere, das die Fachleute schon fast vergessen hatten. Es bezieht sich auf ein Ereignis vor rund 1500 Jahren, und doch klingt es höchst aktuell: Völkerwanderung. Wenn sich Hunderttausende von Flüchtlingen zu Fuß auf den Weg machen, dann scheint diese Parallele nahezuliegen. Das gilt umso mehr, als die Landkarten mit den Balkan- und anderen Routen an jene Grafiken mit den großen Pfeilen erinnern, die in den Schulbüchern einst die Züge der Germanen symbolisierten.
Das Wort macht auch Angst. Oft soll es genau diese Panik bewusst transportieren. Denn die historische Völkerwanderung des 4. und 5. nachchristlichen Jahrhunderts war nicht irgendeine Migrationsbewegung. Es geht um einen Zivilisationsbruch, vielleicht den am längsten nachwirkenden der Geschichte. Es geht um vermeintliche “Barbaren”, die nach dem verbreiteten Geschichtsbild das Römische Weltreich überrannten und der antiken Hochkultur den Garaus machten. Erst ein Jahrtausend später, in der Renaissance, erholte sich das Abendland wieder von dem Rückschlag. So haben es jedenfalls viele aus dem Geschichtsunterricht in Erinnerung.

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2015 // LICHTER Thema Geld

Für das Kino war Geld von Anfang an ein Faszinosum. Filmproduktionen sind per se teuer und Filmemacher müssen zwangsläufig viel Geld beschaffen, um ihre Kunst auszuüben.
Im Wechselspiel zwischen Geld und Film zeigt sich zugleich auch der Sonderstatus des Genres als Diva unter den Künsten, da die meist millionenschweren Produktionen dem Image von Kunst empfindlich widersprechen. Und doch bleibt es für viele oft brotlose Kunst.

Auch inhaltlich waren Filme immer an den vielfältigen Erscheinungsformen des Geldes interessiert: Populäre Hollywoodfilme wie “Wall Street” (1987) oder “Margin Call” (2011) haben unser Bild von der Finanzwelt nachhaltig geprägt und uns die Mechanismen der Finanzkrise näher gebracht, Autorenfilme wie Robert Bressons “L’argent” (1983) haben uns die zerstörerische Kraft des Geldes vorgeführt oder wie Christian Petzolds “Yella” (2007) die Absurdität des virtuellen Geldes verdeutlicht.

In den folgenden Texten setzen sich renommierte FilmemacherInnen, KritikerInnen, FilmwissenschaftlerInnen sowie TheoretikerInnen und AktivistInnen mit Geld, Wirtschaft und Finanzen auseinander.

Reichtum und Popkultur

von Thomas Hecken

[aus: »Pop. Kultur und Kritik«, Heft 5, Herbst 2014, S. 98-120]

Mary Quant schreibt in ihrer Autobiografie: »Once only the rich, the Establishment, set the fashion. Now it is the inexpensive little dress seen on the girls in the High Street.« Das Buch »Quant by Quant« ist 1966 erschienen, dem Jahr, in dem sie den Order of the British Empire im Buckingham Palace verliehen bekam. Es braucht nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, dass sie sich nun selbst auf dem Weg zum Reichtum befand oder das Ziel bereits erreicht hatte.

Dennoch ist ihre Aussage nicht falsch oder heuchlerisch. Tatsächlich hat sie 1955 mit einer kleinen Boutique auf der Londoner Kingʼs Road angefangen, richtig ist auch, dass sie zu den ersten gehörte, die sich auf Jugendmoden spezialisierten, unbestritten ebenfalls ihre Vorreiterschaft bei der Einführung des Minirocks.

In Modebüchern und -artikeln wird gerne Quants Aussage zitiert, es seien jene jungen Frauen, die auf der Kingʼs Road einkauften und vor den Schaufenstern spazieren gingen, in ihrem Drang nach Bewegungsfreiheit gewesen, die den Minirock erfunden hätten. Wie üblich in den zeitgenössischen Kulturgeschichten wird dennoch Quant gerne als Urheberin dieser Mode ausgegeben.

Sie muss dabei zwar manchmal mit anderen Namen konkurrieren – denen von Courrèges und John Bates –, nicht aber mit den »girls« von der Kingʼs Road. Die bleiben anonym, ein zerstreutes Kollektiv von größerer Zahl, darum schadet es Quant in ihrer Designer/Autor-Eigenschaft nicht, auf sie als Inspirationsquelle zu verweisen.

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Geld und Demokratie – eine überfällige Hochzeit

von Christian Felber

Aus: Geld. Die neuen Spielregeln von Christian Felber unter der Mitarbeit von Clemens Guptara. Erschienen bei: Deuticke im Paul Zsolnay Verlag. Wien 2014.

Sind Sie mit der gegenwärtigen Geldordnung zufrieden? Halten Sie sie für gerecht, demokratisch, verständlich und nachhaltig?

Wissen Sie, wie das heutige Geldsystem funktioniert: wie das Geld geschöpft wird, wie die Beziehungen zwischen Geschäfts- und Zentralbanken laufen, wie ein Kredit in ein Wertpapier verwandelt wird, was genau eine Schattenbank ist und auf welchem Weg hundert Millionen Euro in eine Steueroase transferiert werden?

Wissen Sie, wer die heutige Geldordnung gemacht hat? Welches Gremium sie entwickelt, welcher Ausschuss sie diskutiert, welches Parlament oder welcher Souverän sie beschlossen hat?
Die Ratlosigkeit, die sich üblicherweise angesichts solcher Fra- gen ausbreitet, ist einer lebendigen Demokratie ebenso unwürdig wie freier und mündiger BürgerInnen. Dieses Buch möchte die »Herrschaft des Geldes« beenden, indem es

a) einen öffentlichen Diskurs über die herrschende Geldordnung anstößt;

b) konkrete und verständliche Alternativen zu allen wichtigen Elementen der herrschenden Geld- und Finanzordnung vorschlägt und

c) einen demokratischen Prozess skizziert, wie wir von der gegenwärtigen Plutokratie und Finanzdiktatur zu einer demokratischen Geldordnung kommen könnten.

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Do Bitcoins Fulfil the Classic Economic Functions of Money? An Analysis and its Legal Implications

von Benjamin Beck

mit freundlicher Unterstützung des Exzellenzclusters Normative Orders.

1. Introduction

Virtual currencies, especially Bitcoins, have attracted much public attention as well as scholarly interest. Many related issues have, however, not yet been fully clarified and are still being addressed in specialised literature. Particularly whether, despite the fact that they do not have legal tender status in any jurisdiction, Bitcoins could be qualified as “money”, both from a legal and an economic point of view. These questions cannot, however, be regarded as completely distinct from each other. From a legal perspective, the question whether or not a medium fulfils economic functions of money has proven to be relevant – for example, some U.S. court rulings have taken a functional approach when qualifying Bitcoins as money in a legal sense.

In _SEC v. Shavers_(1) the District Court for the Eastern District of Texas ruled that because Bitcoins “can be used to purchase goods or services, and […] used to pay for individual living expenses”, investments in Bitcoin-related opportunities were “investments of money” and, thus, subject to federal securities regulation. Similarly, in addressing a federal money laundering charge the U.S. District Court for the Southern District of New York2 relied upon a dictionary definition of “money” to conclude that Bitcoin “clearly qualifies as ‘money’” as it “can be easily purchased in exchange for ordinary currency, acts as a denominator of value, and is used to conduct financial transactions.”

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Geld oder Leben?

Erfolg wird immer umfassender definiert und gemessen

von Dr. Stefan Bergheim

Sinnvolles Change Management braucht Ziele: Was wollen wir erreichen? Welchen Erfolg wollen wir? Diese Ziele um- fassen längst mehr als nur Geld – und sie sind nicht nur Unterziele auf dem Weg zu mehr Geld. Beteiligung von Mitarbeitern und Bürgern wird als Ziel an sich geschätzt. Ähnlich wichtig ist eine gute Gesundheit als eigenständiges Ziel. Der Erfolg von Organisationen wird immer breiter und umfassender definiert und gemessen. Wer sich diesem Trend öffnet und ihn lebt, der wird langfristig auch den Wandel wirklich erfolgreich gestalten. Das gilt für Unternehmen ebenso wie für Städte und ganze Staaten.

Die breite Definition von Erfolg ist im Kern ein Luxusthema. Je besser die monetären und materiellen Bedingungen der Menschen sind – das pro-Kopf-Einkommen der Deutschen hat sich in den letzten 50 Jahren vervierfacht – umso mehr Bedeutung bekommen andere Faktoren. Individuelle Werte wie beispielsweise Freiheit, Selbstverwirklichung, Engagement, Lebens- zufriedenheit oder Umweltschutz und andere nehmen auf der Prioritätenliste der Menschen einen höheren Platz ein. Die Sozialwissenschaftler konstatieren einen Wertewandel hin zum «Postmaterialismus»: Sind die materiellen Ressourcen ausreichend vorhanden, dann verändern sich die Werte in Richtung Selbstbestimmung, die Prioritäten erweitern sich und die Men- schen fordern u.a. mehr Freiheits- und Mitspracherechte ein.

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Wir brauchen ein neues Geldsystem!

Die Menschen machen sich oft wenig Gedanken darüber, was Geld eigentlich ist. Dabei hängen viele Probleme unserer Wirtschaft mit dem Geldsystem zusammen.

von Thomas Mayer

Alle Rechte vorbehalten. © FinanzBuch Verlag, München

Ob wir es wollen oder nicht: Geld spielt in unser aller Leben eine herausragende Rolle. Haben wir als Kinder die ersten Rechenfertigkeiten erlernt, dann dauert es nicht lange, bis wir diese auf Geld anwenden. Und manch einer verwendet noch seine letzten klaren Gedanken darauf, wer das Geld, das er zu Lebzeiten angesammelt hat, nach seinem Tod bekommen soll. Entsprechend seiner Bedeutung für unser Leben haben sich die meisten Sozialwissenschaften mit Geld befasst.

In den Wirtschaftswissenschaften nimmt die Geldtheorie und -politik einen prominenten Platz ein. Man sollte daher meinen, wir wüssten, was Geld ist. Doch das ist, so unglaublich es klingt, nicht der Fall. Es gibt zwei sehr unterschiedliche Auffassungen darüber, was Geld eigentlich darstellt. Für die einen ist Geld eine besondere Ware, die durch gesellschaftliche Konvention zu einem Mittel für den Tausch wirtschaftlicher Güter geworden ist. Für die anderen ist Geld nur ein Maß für die Schuld, in der wir Mitmenschen gegenüber stehen, die uns ein wirtschaftliches Gut überlassen haben.

Bridging the Gap between Self-Interest and the Common Good?

A Case Study on the Equator Principles

von Manuel Wörsdörfer

mit freundlicher Unterstützung des Exzellenzclusters Normative Orders

The following essay focuses on a particular Corporate Social Responsibility (CSR) approach within the field of project finance which has the potential(!) – given that certain reform measures are adopted – to overcome the alleged trade-off between (corporate) self-interest and the common good. The approach is labeled as the Equator Principles (EPs) framework which celebrated its tenth anniversary and the formal launch of the third generation of the EPs (EP III) in June 2013.

The EPs are officially characterized as voluntary credit risk management framework for determining, assessing, and managing socio-environmental risk in project finance transactions. EP III applies globally to four financial products: project finance, project finance-related advisory services, project-related corporate loans and bridge loans. The project finance sector funds the design, construction and operation of large industrial and infrastructure projects in particular in emerging markets and developing countries. The EPs are based on the IFC Performance Standards on Environmental and Social Sustainability as well as on the World Bank Group’s Environmental, Health, and Safety Guidelines. As of today, 80 financial institutions from all over the world have adopted the EPs.

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Wir werden nicht als Egoisten geboren

von Friederike Habermann

Erschienen in: “Commons – Für eine neue Politik jenseits von Markt und Staat”. Herausgegeben von Silke Helfrich und der Heinrich Böll-Stiftung (2012).

_*Downloadlink:*
http://www.boell.de/sites/default/files/2012-04-buch-2012-04-buch-commons.pdf


Die Frau schreibt einen Brief, doch dann fällt ihr der Stift zu Boden. Sie beugt sich über den Schreibtisch und versucht, nach ihm zu greifen, schafft es aber nicht. Da erkennt der kleine Junge, dass er ihr helfen kann. Er geht zum Stift, hebt ihn auf und reicht ihn der Frau. Es handelt sich um ein Experiment mit 20 Monate alten Kindern: In einer ersten Phase zeigen sich fast alle hilfsbereit gegenüber Erwachsenen, denen Gegenstände entgleiten und die sich scheinbar vergeblich bemühen, sie wieder aufzuheben. Danach werden die Kinder willkürlich auf drei Gruppen verteilt: In der ersten reagiert die erwachsene Person gar nicht auf die Hilfe des Kindes, in der zweiten lobt sie das Kind und in der dritten belohnt sie es mit einem Spielzeug. Ergebnis: Während die Kinder der ersten und zweiten Gruppe weiterhin wie selbstverständlich helfen, zeigen die Kinder der dritten Gruppe überwiegend nur noch dann Hilfsbereitschaft, wenn sie dafür belohnt werden (Warneken/Tomasello 2008).

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Geld (Aus: Wörterbuch kinematographischer Objekte)

von Rembert Hüser

Geld ist immer schon da, sonst gäbe es den Film nicht. Aber es ist notorisch knapp. Jedes Geldstück muss x-mal umgedreht werden. (Was am Ende herauskommt, können wir uns ohnehin nicht leisten.) Filme sind kostspielig. Sie spielen Werte durch. Bewahren sie, rechnen sie gegeneinander, tauschen sie, halten sie knapp. Wir beobachten, wie uns etwas verkauft wird, das sich entwickelt und das wir mit uns herumtragen. Und sehen zu, was andere damit anfangen. In Herbert Achternbuschs DER NEGER ERWIN (1980) steht das Filmteam im Vorspann auf dem Vikutalienmarkt in München hinter verschiedenen Ständen. Eine ältere Frau hinter Wurzelgemüse beginnt: “Der Neger Erwin. Bayrischer Rundfunk.” … Eine jüngere Frau hinter Kartoffeln: “Heidi Handorff Script und Schnitt.” (Da muss sie lachen). Rein in die Kartoffeln, raus aus den Kartoffeln zwischen fiktionalem und dokumentarischem Modus geht es in einem fort hin und her.

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2014 // LICHTER Thema Humor

Die Geschichte der Filmkomödie ist so alt wie die des Kinos. Sie gehört seit jeher zu den Garanten großer Publikumserfolge. Doch wie ist es heute künstlerisch und kommerzielle um die Komödie bestellt? Im Vorfeld des LICHTER-Schwerpunkts Humor und Komödie veröffentlichen wir hier in den kommenden Wochen verschiedene Beiträge von FilmemacherInnen und KritikerInnen, die sich mit dieser Frage beschäftigen – teilweise Originalbeiträge, teilweise Übersetzungen von spannenden Texten, die uns in letzter Zeit begegnet sind.

Macht doch mal ernst mit der Komödie

Der Autor ist Redakteur im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.

Es war ein furchtbares Finale für diesen erfolgreichen Film. Zehnfach ist „American Hustle“ in diesem Jahr für den Oscar nominiert gewesen, nicht einen hat er gewonnen. Das ist die Höchststrafe – nein, nicht ganz. Es gab zwei andere Filme, die dieses desaströse Ergebnis bei noch mehr Nominierungen erdulden mussten: „Steven Spielbergs „Die Farbe Lila“ war 1985 ebenso in elf Kategorien vertreten wie 1978 „Am Wendepunkt“ von Herbert Ross. Trotzdem dürften David O. Russell (als bester Regisseur für „American Hustle“ nominiert) und seine namhafte Schauspielergilde, darunter Amy Adams (als beste Hauptdarstellerin nominiert), Christian Bale (als bester Hauptdarsteller), Jennifer Lawrence (als beste Nebendarstellerin), Bradley Cooper (als bester Nebendarsteller) und Robert de Niro (nicht im Abspann des Films genannt und auch für keinen Oscar nominiert, aber in „American Hustle“ mit der besten Leistung seiner letzten Jahre), ihren Augen und Ohren nicht getraut haben, als Preis um Preis an ihnen vorüberging.

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Jetzt aber mal Mist beiseite

von Eva Becker

Zur Autorin: Geboren 1981 / Studium Visuelle Kommunikation/Film, HfG Offenbach / Seit 2011 freie Filmemacherin, u.a. Hessischer Filmpreis, Lichter Kurzfilmpreis, Content Award Wien / Teilnahme an zahlreichen nationalen und internationalen Filmfestivals, u.a. Berlinale Talent Campus / Gründungsmitglied des Künstlerkollektivs Devantgardista / Dozentin für Flash & Animation / Produziert digitale Slackermovies, liebt Fug und Unfug, lebt in Wien.

Lieblingskomödien und humoristische Einflüsse der Autorin: Rubin & Ed,(1991) / Back to the Future, (1985) / Little Miss Sunshine, (2006) / It´s a wonderful life (1946) / Modern Times (1936) / Black Books (2004 -2006) / Monty Pythons Flying Circus (1969 -1976) / Look around you (2002 – 2005) / Spongebob Schwammkopf (1999 – heute) / Sesamstraße (1969 – heute) /The Office US ( 2005 -2013) Die Hau Schau (1974)



Ich glaube, dass wir heute den Humor noch immer nicht ernst genug nehmen, mahnte vergangenes Jahrhundert der Verhaltensforscher Konrad L.* und beklagte damit einen Zustand, an dem sich bis heute wenig geändert hat – was mir ehrlich gesagt ein Rätsel ist. Denn mal abgesehen von den vielen Vorteilen, die eine heitere Geisteshaltung gegenüber den Unzumutbarkeiten des Lebens mit sich bringt, allein aus Effizienzgründen ist es ratsam, ein freundliches Gesicht zu machen! Um finster zu schauen, muss man 43 Gesichtsmuskeln bewegen, ein Lachen kostet hingegen nur 17 Muskeln! Da verstehe sogar ich als begeisterte Küchen-BWL-lerin: Nach Adam Riese, Eva Zwerg (wie mein Mathelehrer in der Mittelstufe gerne witzelte) macht das 26 gesparte Muskeln und ist daher sehr effizient! Vermutlich erspart man sich die unschönen vertikalen Stirnfalten um die Augenbrauengegend, aber zurück zum Gedanken der Effizienz, fortan im Text mit Mist ersetzt, da diese Buchstabenkombination gerade so günstig zu haben war und dabei wesentlich weniger Buchstaben verbraucht.

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Liebe auf der Flucht, lol

Von Philipp Stadelmaier

Philipp Stadelmaier ist Filmwissenschaftler (Frankfurt a.M. / Paris) und als Filmkritiker vor allem für die „Süddeutsche Zeitung“ tätig.

Amour von Michael Haneke ist alles andere als eine Komödie. Eine Haneke-Parodie auf Twitter zeigt nun, dass er vielleicht gerade eine sein muss, um überhaupt gesehen werden zu können. So wird der Kommentar, der sagt, was ein Film nicht ist, selbst zur Komödie, und eröffnet damit nicht nur Amour, sondern vielleicht dem Genre der Komödie selbst neue Perspektiven.


In der genialen Twitter-Parodie von Benjamin Lee kann sich Michael Haneke vor Lachen kaum halten: Laughing Out Loud, anders kann er sich den Triumph von Amour nicht erklären, diesem film about strokes, der alles andere als ein funny game ist. Zwei Achtzigjährige beim Sterben filmen, zwei Stunden lang, in einem Pariser Appartment, das der Film nie verlässt und selbst zum Sarg wird, so dass der Zuschauer nur die Rolle des Todes oder eines Toten einnehmen kann – und schon hat man einen Publikumserfolg, die zweite Goldene Palme und Oscar-Nominierungen en masse.
Streng genommen besteht Amour aus drei Bildern, die allen anderen zu Grunde liegen. Einmal ist das Anne (Emmanuelle Riva), ehemals Pianistin, sie hat anfangs einen Schlaganfall. Dann ihr Mann, George (Jean-Louis Trintignant), der sie pflegen und am Ende ersticken wird, um sie aus ihrem Elend zu befreien; danach stirbt auch er. Diese beiden Bilder – ein Schuss und ein Gegenschuss des Paares am Küchentisch – kennen alle, es sind die einzigen des Films, die Haneke zu Werbezwecken freigegeben hat. Für das dritte Bild muss man zahlen. Es zeigt dann, was sonst, beide zusammen. Aber zeigt es wirklich mehr als die beiden anderen – bleibt zwischen Schuss und Gegenschuss überhaupt noch ein bisschen Platz?

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Und die meinen es ernst

Über den Humor in "Das merkwürdige Kätzchen" und "Zum Geburtstag".

von Frédéric Jaeger

Das merkwürdige Kätzchen

Frédéric Jaeger ist Chefredakteur von critic.de, einem filmästhetisch und kulturpolitisch engagiertem Kinomagazin. Schwerpunkte in seiner Arbeit sind Produktionsdiskurse, französische Filme, deutscher Nachwuchs und die Vermittlung von Kino und Kritik an Jugendliche.

Es ist der Beginn eines Familientages, Jenny Schily steht in der Küche. In der Ruhe ihrer Präsenz, in der Grazie, mit der sie die kleinen Verrücktheiten aller erträgt, in ihrem fast ausdruckslosen Gesicht steckt die ganze Geschichte von „Das merkwürdige Kätzchen“. Immer wieder zeigt Ramon Zürcher sie auch von hinten, wie sich die Mutter konzentriert oder von ihrem Umfeld abschirmt. Einmal, in einer der wenigen Szenen, die außerhalb der Wohnung stattfinden, sitzt sie in einem Café vor einer Fensterfront, vom Zuschauer und der Kamera abgewandt, von der Welt draußen durch die Scheibe abgetrennt. Es sind just solche Distanzen, die das Wesen dieses Films ausmachen. Distanzen prägen seinen Humor und verbinden die Figuren: Die gemeinsame Distanz zur Welt schafft Nähe. Eine elegante Distanz freilich, die sich nicht erklären braucht, die überspitzt das Selbstverständliche und das Offensichtliche fokussiert und mit jedem Zuviel an Aufmerksamkeit das Leben an sich feiert, die menschliche Verfassung als wissbegierige, als nach Erklärungen trachtende Existenz.

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Eloge des Humors

von Antonin Peretjatko

La Fille du 14 Juillet

Der Autor ist Regisseur des Films La fille du 14 juillet, der beim LICHTER Filmfest seine Deutschlandpremiere feiern wird. Der vorliegende Text ist in einer gekürzten Fassung unter dem Titel „Eloge de l‘humour“ zuerst in der Ausgabe September 2013 der „Cahiers du Cinéma“ erschienen. Verwendung mit freundlicher Genehmigung des Autors und der Redaktion. Aus dem Französischen von Michael Hack.

Ich habe vor der Wahl eines Titels für diesen Artikel in den Cahiers du Cinéma lange gezögert, denn schon bei „La fille du 14 juillet“ kam bei jeder Einstellung jemand und meinte, eine Anspielung erkannt zu haben. Einige haben den Film einzig im Lichte seiner Verweise und Bezüge interpretiert: „Der dritte Mann“ für das Volksfest, „Der Tod in Venedig“ wegen des Strands ebenso wie Rohmer (angeblich ist der Badeanzug von Truquette der gleiche, der auch in „Pauline à la plage“ auftaucht) oder auch Chaplin, weiß Gott weshalb… eines Tages werde ich eine Figur „Guten Tag, der Herr“ sagen lassen, und auch dann kommt einer und meint, das gebe es ja schon bei Hitchcock. Kurzum, wenn ich diesen Artikel „Chronik“ nenne, dann wird man darin gleich Jean Rouch und die „Chronik eines Sommers“ wiedererkennen, und deshalb kann ich ebenso gut eine Godard-Anspielung machen, damit wenigstens das geklärt ist. Da ich kein Filmtheoretiker bin, werde ich versuchen, der Bitte nach einem Artikel über das Burleske und seine Konstruktion auf verständliche Weise nachzukommen.

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